Persistierende frühkindliche Reflexe und Funktionsstörungen
der Wirbelsäule
von Judith Höferlin.
Lasst uns den Kindern den besten Boden für ihre Wurzeln
schaffen, und lassen wir uns überraschen, mit welcher Kraft
sie daraus wachsen.
Abschlussarbeit im Rahmen der Ausbildung des Instituts für
Neurophysiologische Psychologie zum Neurophysiologischen Entwicklungstherapeut
Inhalt
Persistierende frühkindliche Reflexe und
Orthopädie
Lernschwierigkeiten und ihre
Behandlung
Hemmung der Reflexe
Neurophysiologie Kopfgelenk
Der Tonische Labyrinthreflex
in Zusammenhang mit Wirbelsäulenfehlstellungen
Persistierender TLR
KISS wirkt auf den TLR
Otits media und TLR
Zusammenfassung TLR
Beispiele weiterer Reflexe
ATNR und die Wirbelsäule
STNR und die Wirbelsäule
Der Spinale Galant Reflex
und das Becken
NDT und Manuelle Therapie
Ausblick
Quellen
Persistierende frühkindliche Reflexe und
Orthopädie
Lernschwierigkeiten und ihre Behandlung
Setzt man sich mit Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten
und Verhaltensauffälligkeiten auseinander, trifft man unter
anderem auf zwei grosse Störungsgebiete. Das eine sind Funktionsstörungen
der oberen Kopfgelenke und das andere das Vorhandensein von persistierenden
frühkindlichen Reflexen. Beides ist viel beschrieben worden
und durch wissenschaftliche Studien belegt.
Mit den Kopfgelenken beschäftigen sich vor allem die Manualtherapeuten.
Sie behandeln nicht nur Kinder, sondern auch schon Säuglinge
an den Kopfgelenken und der gesamten Wirbelsäule. Der Zusammenhang
mit Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten wurde
unter anderem von Dr. Heiner Biedermann beschrieben. Die EWMM (European
workgroup for Manualmedicin) beschäftigt sich sehr viel mit
Kindern und Kopfgelenksblockierungen (www.manmed.info.). Sie definieren
den Begriff des KISS und KIDD. Kopfgelenk-induzierte Symmetriestörung,
also KISS, wird vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern verwendet,
weil hier die Asymmetrie am auffälligsten ist. Bei den Säuglingen
stehen vor allem vegetative Problematiken und Still- und Trinkschwierigkeiten
im Mittelpunkt der Behandlung. Später - bei Kindern und Jugendlichen,
ca. ab dem sechsten Lebensjahr - wird der Begriff KIDD verwendet.
KISS- induzierte Dysgnosie und Dyspraxie. Wichtig ist hier die Verbindung
zur ursprünglichen KISS Symptomatik. Bei grösseren Kindern
ist die Asymmetrie für das ungeübte Auge nicht so offensichtlich.
Diese Kinder fallen den Eltern und Lehrpersonen durch Dysgnosie
(Wahrnehmungsstörung) und Dyspraxie (Motorische Störung)
auf. In der Schule kommen die Lernschwierigkeiten mit Lese- und
Rechtschreibproblematik hinzu.
Die Therapie von persistiernden frühkindlichen Reflexen ist
begründet durch Dr. Peter Blythe und Sally Goddard, die schon
seit den siebziger Jahren Kinder mit Schulproblemen behandeln und
festgestellt haben, dass bei ihnen frühkindliche Reflexe nicht
genügend gehemmt werden oder die reifen Stellreaktionen nur
ungenügend vorhanden sind. Das Institut für Neurophysiologische
Psychologie (INPP) hat in zahlreichen Studien den Zusammenhang zwischen
Lernschwierigkeiten und abberanten oder persistierenden frühkindlichen
Reflexen untersucht. Sie haben den Begriff der Neurophysiologischen
Entwicklungsverzögerung (NDD) geprägt. Auch diese Kinder
haben anamnestisch häufig Problematiken während der Schwangerschaft
oder um die Geburt. Anders als bei der KISS Problematik stehen hier
aber nicht nur die Asymmetrie und die physischen Auffälligkeiten,
sondern auch stressbedingte oder psychologische Hintergründe
im Fokus der Untersuchung und Befragung.
Beide stellen fest, dass durch die körperlichen Defizite in
Form von mangelnder Kopfbeweglichkeit oder noch auftretender Reflexaktivität
die motorische Entwicklung nicht optimal ablaufen kann. Diese Kinder
durchlaufen unter Umständen manche Entwicklungsschritte zu
schnell und festigen sie dadurch nicht oder überspringen einzelne.
So lassen manche der Kinder die Krabbelphase aus oder finden eigene
Wege der Fortbewegung, z.B. die Porutscher. Manche meiden die körperliche
Auseinandersetzung mit der Umwelt, indem sie wenig klettern, springen
oder für Kinder typische Fahrzeuge wie Dreirad, Fahrrad oder
Rollschuhe nicht fahren oder nur schlecht erlernen.
Durch dieses Auslassen wichtiger Meilensteine der Entwicklung können
verschiedene Sinneserfahrungen nicht gemacht werden. So wird das
vestibuläre System weniger stimuliert, wenn die Säuglinge
sich weniger drehen oder die Kinder sich wenig bewegen. Genauso
verhält es sich mit den taktilen Reizen, die nicht erfahren
werden. Die Augenmotorik wird
weniger genau abgestimmt und es können Schwächen in der
Akkomodation von nah und fern sowie des binokulären Sehens
auftreten.
Andere Kinder entwickeln sich motorisch sehr gut, sind aber darauf
angewiesen, sich ständig selbst vestibulär zu stimulieren.
Diese Kinder fallen auf durch Hyperaktivität und ständige
Unruhe. Sie können sich schlecht konzentrieren und sind in
der Wahrnehmung gestört.
Diese Umstände hemmen die Entwicklung der optimalen Raum- und
Eigenwahrnehmung. Die Kinder haben eine schlechtere Orientierung
und der Bezug zum eigenen Körper ist gestört.
Dies sind aber Grundvoraussetzungen, um intellektuelle Fähigkeiten
zu erwerben. Nur wenn das Kind den Raum erforscht hat, weiss es
was oben und unten, vorwärts und rückwärts ist, kann
es Fähigkeiten wie Rechnen, Lesen und Schreiben entwickeln.
Für die Weiterleitung und die Einordnung von Sinnesreizen wie
Sehen, Hören und das Gleichgewicht benötigt es gut funktionierende
Reflexbögen mit guter Nervenleitung.
Dies ist nur dann der Fall, wenn die Umgebung der Nerven nicht gestört
ist. Die Gelenke müssen frei sein und der Stoffwechsel in Ordnung.
Sowohl die Manuelle Therapie als auch das INPP nehmen dieses Wissen
als Grundlage für ihre Therapie. Es gibt aber nur wenige Therapeuten,
die beides praktizieren und viele Therapeuten wissen zu wenig voneinander.
Es gibt keine gemeinsamen Untersuchungen oder Fragebögen.
Befragt man die Manualtherapeuten oder liest die Literatur, bekommt
man als Aussage, dass bei der Therapie der Kinder die Manualtherapie
an erster Stelle steht und nach der Behandlung der Kopfgelenke die
Reflexe sich normalisieren.
Auf der anderen Seite erheben die Neurodevelopement Therapeuten
für sich den Anspruch, dass gut funktionierende Reflexsysteme
eine Vorraussetzung sind für die optimale Beweglichkeit der
Gelenke.
Diese Arbeit soll anhand einiger Reflexe den Zusammenhang zwischen
Manualtherapie und Neurodevelopement Therapy zeigen und dass beide
Therapien ihren Stellenwert haben. Es ist vor allem wichtig, bei
Therapieresistenz oder andauernden Rückfällen an die anderen
Behandlungsansätze zu denken.
Ausserdem soll diese Arbeit einen Anstoss geben, um Studien in diese
Richtung durchzuführen, um einen Golden Standard zu finden
zur Therapie von Kindern mit Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten.
Viele Mediziner und Pädagogen wissen nicht, wie effektiv den
Kindern geholfen werden kann. Es sollte auch Ziel der Studien sein,
beide Therapien bekannter zu machen.
Hemmung der Reflexe
„Ein Reflex ist eine unwillkürliche Reaktion auf einen
Reiz und den gesamten physiologischen Prozess, der ihn aktiviert.“
(Sally Goddard) Es gibt verschiedene Formen von Reflexen, die auf
unterschiedlichen Ebenen des ZNS ablaufen und zu verschiedenen Zeiten
entstehen. Sie werden von höheren Zentren gehemmt oder bleiben
ein Leben lang erhalten.
Es gibt spinale Reflexe, also auf Ebene des Rückenmarks, die
im Mutterleib entstehen und dort auch wieder gehemmt werden. Charakteristisch
hierfür sind die Rückzugsreflexe, die auf taktile Reize
reagieren und ein Zusammenziehen des Embryos bewirken. Die spinalen
Reflexe transformieren sich in primitive Reflexe.
Diese frühkindlichen oder primitiven Reflexe entstehen auf
Hirnstammebene. Sie erscheinen in den ersten Wochen im Mutterleib
und sollten bei der Geburt voll ausgereift sein. Sie sind wichtig
für das Überleben des Säuglings nach der Geburt.
Zu ihnen gehören der Moro-Reflex, der Tonische Labyrinth-Reflex
(TLR), der Asymmetrisch Tonische Nackenreflex (ATNR) und einige
andere.
Diese primitiven Reflexe sollen in den ersten 6 bis 12 Lebensmonaten
gehemmt oder transformiert werden. Dies geschieht über Nervenbahnen
von höheren Hirnzentren. Im Mittelhirn entstehen die posturalen
Reflexe oder auch Halte-und Stellreaktionen. Zu ihnen gehören
unter anderem die Kopfstellreflexe, die segmentären Rollreflexe
oder die Stützreaktionen.
Die Hemmung entsteht aufgrund der Myelinisierung von Nervenbahnen
höherer Hirnzentren wie z.B. der Pyramidenbahnen. Diese Nervenbahnen
sind schneller und unterdrücken dadurch die primitiven Reaktionen.
Die zunehmende corticale Kontrolle hemmt die frühkindlichen
Reflexe. Durch die Ausbildung und Myelinisierung der Pyramidenbahnen
findet die motorische Antwort immer kontrollierter statt. Von den
absteigenden Nervenbahnen gehen hemmende Interneurone ab, die auf
spinaler und Hirnstammebene die primitive Reflexantwort hemmen.
(Abb. 1)
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Abb. 1: Neuronenschaltung zur Erregungshemmung durch Interneurone |
Diese Hemmung kann aber nur entstehen, wenn der Säugling die
Möglichkeit hat, sich frei zu bewegen. Es läuft dann ein
Bewegungslernen ab. Aus den zunächst zufälligen Bewegungen
entsteht über die Afferenz (ankommende Nervenbahnen im Gehirn)
der Propriozeptoren eine Vorstellung über das eigene Körperbild.
Es entsteht eine body map. Hieraus ergibt sich das Körperschema
mit dem Bewusstsein über die Funktion der Körperteile.
Es entsteht ein Bewegungsbild, so dass der Säugling zunehmend
selbst seine Bewegung kontrolliert. So berührt er anfangs nur
zufällig seine Knie oder die Füsse, nimmt dies über
den taktilen Reiz wahr und lernt somit, dass er selbst willkürlich
seine Knie und Füsse berühren kann.
Bei den Kopfstellreflexen geschieht dies über die Augen und
das Labyrinth. Ziel des Kindes ist es, den Kopf und die Augen so
horizontal und das Bild vor dem Auge so ruhig wie möglich zu
halten.
Voraussetzung für das Bewegungslernen und die Ausbildung der
Halte- und Stellreaktionen ist eine freie Beweglichkeit der Gelenke.
Nur wenn die Arme und Beine zufällig das Spielzeug auf der
Krabbeldecke berühren, nimmt das Kind es wahr. Für die
Kopfgelenke gilt dies genauso. Nur bei freier Beweglichkeit der
Kopfgelenke können die Kopfstellreflexe sich entwickeln. Sind
das Labyrinth oder die Augen, bzw. die Sehkraft beeinträchtigt,
können keine Kopfstellreflexe entwickelt werden. Die Nervenbahnen
werden nicht gebraucht, somit auch weniger myelinisiert und somit
werden die Reflexe der tieferen Ebenen im ZNS ungenügend gehemmt.
Es werden weniger hemmende Interneurone gebildet, um primitive oder
spinale Reflexe zu hemmen.
Neurophysiologie Kopfgelenk
Zu
den oberen Kopfgelenken zählt man den Schädel, sowie die
ersten zwei Halswirbel Atlas und Axis. Diese knöchernen Strukturen
sind mit vielen Bändern und Muskeln verbunden. Die Mm. rectus
capitis minor und major und Mm. obliquus capitis minor und major
haben sehr viele Muskelspindeln, die für die Propriozeption
und den Tonus zuständig sind.
Die Nervenwurzeln treten an den Kopfgelenken dorsal aus und können
bei Fehlstellungen Schmerzen und hohe Muskelspannungen auslösen.
Der N. Vagus, der dem parasympathischen Nervensystem angehört,
tritt neben dem Atlas aus dem Schädel aus und kann bei einer
Fehlstellung des 1. Halswirbels irritiert werden, was zu einer breiten
Palette von Symptomen führen kann. Bei Säuglingen angefangen
von Koliken und Schlaflosigkeit und bei älteren Kindern zu
Ängsten, Blutdruckproblemen und Sprachschwierigkeiten.
Die Kopfgelenke haben Verbindungen zu mehreren Ebenen des ZNS. Von
hier gehen Informationen an den Hirnstamm. Dort werden diese weitergeleitet
an den Cortex und das Kleinhirn. Es gibt Verbindungen zwischen dem
Vestibularapparat und den Kopfgelenken.
Die Kopfgelenke sind also unmittelbar mit dem Gleichgewicht verbunden.
Über die Vestibularkerne sind die Kopfgelenke auch mit den
Augen verschaltet. Die Kopfgelenke sind beteiligt am Vestibulo-Okkulären
Reflexbogen (VOR).
Wenn die Kopfgelenke in ihrer Funktion gestört sind, hat dies
Einfluss auf den VOR, d.h. das Gleichgewicht kann gestört sein.
Genauso können die Augenmuskeln in ihrer Funktion beeinträchtigt
sein, da die Informationen, die aus der HWS kommen, irritieren.
Die Kopfstellreflexe können sich nur ungenügend entwickeln,
da sich die Kopfgelenke nicht frei bewegen. Genauso können
primitive Reflexe, die von den Nackenrezeptoren abhängen wie
ATNR oder STNR, nicht genügend gehemmt werden oder ausreifen,
da diese direkt von den Nackenrezeptoren ausgelöst werden.
Kopfgelenksstörungen können verschiedene Ursachen haben.
Dies kann rein mechanisch durch eine schwere Geburt geschehen oder
durch Zug am Kopf bei Sectio oder Zangengeburt.
Auch eine ungünstige Lage im Mutterleib ist denkbar. Daneben
spielen Unfälle oder falsche Lagerung eine Rolle (Babysafe).
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Stellung der Kopfgelenke aber
auch durch die Reflexaktivität beeinflusst wird. Durch das
unwillkürliche Ablaufen von primitiven Reflexen kann es passieren,
dass der Atlas durch einen einseitigen Muskelzug in eine blockierte
Position gedrückt wird.
Oft reicht eine Manualtherapeutische Behandlung aus und die Kopfgelenksstörung
ist behoben. Wenn aber der Tonus der kurzen Nackenmuskeln sehr hoch
ist z.B. aufgrund eines persistierenden TLR, Moro-Reflex, ATNR oder
STNR, kann es unmöglich sein, den Atlas auf Dauer richtig zu
positionieren. In diesen Fällen müssen erst die Reflexe
gehemmt werden mit Hilfe der Neurodevelopement Therapy, um den Tonus
zu regulieren. Sollten die Kopfgelenke dann immer noch gestört
sein, schliesst sich eine Manuelle Therapie an.
In der Praxis sieht man häufig eine Mischung aus beiden Problematiken.
Je nach Kind sind die Blockaden oder die aberranten oder persisitierenden
Reflexe dominanter im Störungsbild.
Im Folgenden wird anhand einiger Reflexe der Zusammenhang zwischen
Reflexen und Kopfgelenken, bzw. der Wirbelsäule aufgezeigt.
Der Tonische Labyrinthreflex in Zusammenhang mit Wirbelsäulenfehlstellungen

Persistierender TLR
Der Tonische Labyrinthreflex geht vom Labyrinth aus und reagiert
in Rückenlage auf Lageveränderungen des Kopfes nach vorne
und zurück. Wird der Kopf nach hinten bewegt, erfolgt eine
Streckung des ganzen Körpers. Bewegt sich der Kopf nach vorne,
gerät der Körper in eine Beugehaltung. Die Beugehaltung
wird benötigt für die reife Geburtslage, der TLR rückwärts
ist notwendig und wird dann auch voll ausgereift bei dem Austritt
aus dem Geburtskanal. Der TLR vorwärts sollte im 3. Lebensmonat
gehemmt sein und der TLR rückwärts erst später mit
ca. dreieinhalb Jahren.
Persistiert der TLR, weil er z.B. unter der Geburt nicht gebraucht
wurde nach einer Sectio oder aus irgendwelchen anderen Gründen,
hat dies Auswirkungen auf die Haltung des Kindes.
Der Vestibulo-Okuläre Reflexbogen ist nur ungenügend ausgebildet,
da kein reifes Gleichgewichtsverhalten möglich ist. Bei Lageveränderungen
oder bei Bewegungen des Kopfes tritt ständig der TLR in Erscheinung.
Die Gleichgewichtsreaktionen können nicht automatisiert werden.
Dies erfordert von dem Kind ein ständiges Ankämpfen gegen
einen Tonusverlust bei Flexion des Kopfes oder eine Tonuserhöhung
bei Extension des Kopfes.
Für das Kind bedeutet dies eine ernorme Anstrengung im Alltag
mit erhöhtem Energieverbrauch. Es sind andauernde Gleichgewichtsreaktionen
von Nöten, wo andere Kinder ohne grosse Anstrengung bestehen.
Diese Kinder zeigen häufig einen hohen Tonus in der kurzen
Nackenmuskulatur und fixieren ihre oberen Kopfgelenke in Extension.
Dies würde einem KISS 2 entsprechen. Die BWS ist als Ausgleich
in einer kyphotischen Haltung und vor allem in der oberen BWS sehr
fest. Die Knie werden in Extension gedrückt und überstreckt,
was Auswirkungen auf die LWS hat. Die Lordose der LWS sitzt sehr
tief bei L5/S1 und führt hier zu einer Überlastung. Die
Bauchmuskeln sind tonusbedingt zu schwach aufgrund des TLR und können
der starken LWS- Lordose nicht entgegenwirken.
Das Becken und der Kopf können sich nicht frei bewegen. Dies
vermindert die Körper- und Raumwahrnehmung und die Kinder haben
eine schlechtere Orientierung.
Ist der TLR sehr dominant, würde eine reine Manuelle Therapie
nicht den erwarteten Erfolg bringen, da die Tonusverhältnisse
den Atlas immer wieder in die extendierte Position bringen würden.
Auch eine reine manuelle Entlastung der LWS hält auf Dauer
nicht an. Die Bauchmuskeln sind tonusbedingt zu insuffizient, um
das Ergebnis zu festigen.
Hier sollte die NDT unbedingt vor der Manuellen Therapie ansetzen.
KISS wirkt auf den TLR
Besteht aufgrund einer schwierigen Geburt, z.B. Zangengeburt oder
einer Sectio eine KISS- Problematik, d.h. sind die Kopfgelenke blockiert,
ist es dem Säugling nicht möglich, seinen Kopf frei zu
bewegen. Es bestehen schlechtere Voraussetzungen für das Bewegungslernen.
Der Input für das Labyrinth und die Bahnen des VOR ist geringer
und vor allem qualitativ schlechter, da die Bewegungen nicht in
alle Richtung frei sind. Der VOR kann sich schlechter ausbilden,
was Auswirkungen auf das Gleichgewicht und die Augenmotorik hat.
Die Informationen von Nackenrezeptoren und Gleichgewichtsorgan können
nicht richtig miteinander verarbeitet werden, da die Nackenrezeptoren
durch die blockierten Wirbel nicht die korrekten Informationen liefern
können. Die Kopfstellreflexe, genauer die Labyrinth- und Augenstellreflexe,
können sich nur ungenügend entwickeln, da mechanisch eine
Hemmung besteht und der Kopf sich nicht gut im Raum einstellen kann.
Durch die mangelnde Beweglichkeit werden die höheren Hirnzentren
nicht genügend aktiviert und hemmen nicht den auf Stammhirn
angelegten TLR.
Hier ist wichtig, dass erst die Blockaden gelöst werden, bevor
das INPP Programm angesetzt wird. Wenn die Wirbelgelenke nicht mehr
gestört und alle Bewegungsrichtungen frei gegeben sind, können
wieder alle Informationen fliessen und die Reflexbögen reifen.
Der Kopf stellt sich korrekt im Raum ein und die Tonusverhältnisse
normalisieren sich. Das Kind kann seine Bewegungen besser ökonomisieren
und die Körper- und Raumwahrnehmung optimiert sich.
Otits media und TLR
Das
Ohr besteht aus einem äusseren Ohr, dem Mittelohr und dem Innenohr.
Das äussere Ohr geht über die Ohrmuschel und den äusseren
Gehörgang bis zum Trommelfell. Das Mittelohr besteht aus der
Paukenhöhle mit den Gehörknöchelchen Hammer, Amboss
und Steigbügel und der Ohrtrompete, die im Rachenraum mündet.
Hier wird der Druckausgleich ausgeübt über das Schlucken
oder Gähnen. Im Mittelohr befinden sich zwei Muskeln. Der M.
stapedius und der M. tensor tympani, die Einfluss auf die Schallweiterleitung
haben. Sie wirken antagonistisch und dämpfen und verstärken
den Schall. In das Innenohr gelangt man über zwei kleine Fenster.
Darin befinden sich die Cochlea (Gehörschnecke) und das Gleichgewichtsorgan
mit den drei Bogengängen und den Säckchen Utricculus und
Sacculus.
Von diesen Organen geht der N. vestibulochochlearis ab, der sowohl
für das Gleichgewicht als auch für das Gehör zuständig
ist.
Es ist also nachvollziehbar, dass Kinder mit Gleichgewichtsproblemen
auch oft Probleme haben in der Schallweiterleitung und umgekehrt.
Oft haben die Kinder mit Lernschwierigkeiten auch Schwierigkeiten,
Geräusche zu filtern und Nebengeräusche auszuschalten.
In der Anamnese der Kinder findet sich häufig eine vermehrte
Anzahl von Mittelohrentzündungen (otitis media). Dies betrifft
anatomisch nicht direkt das Labyrinth mit Gehörschnecke und
Gleichgewichtsorgan, aber es ist sehr naheliegend, dass massive
und häufige Entzündungen des Mittelohrs das Innenohr in
der Funktion nicht verschonen. Der N. vestibulochochlearis kann
eine Neuropathie aufweisen und die Stoffwechselsituation in den
anliegenden cranialen Knochen wie Temporale, Sphenoid, Kiefergelenk
sowie Gaumen ist nicht optimal.
Um die reifen Reflexbögen ausbilden zu können, benötigt
es aber eine gute Nervenleitung und Stoffwechselversorgung der Organe.
Bei diesen Kindern hilft unterstützend zur NDT auch eine craniale
Therapie wie sie manche Manualtherapeuten schon als Zusatzausbildung
haben. Sie setzt wie bei der Craniosacralen Therapie an den Schädelknochen
an und wird mit erhöhtem Impuls und Druck ausgeführt.
Zusammenfassung TLR
Die Neurodevolopement Therapy übt positiven Einfluss auf die
Integration der Reflexe aus. Die Hemmung des TLR kann die Tonusverhältnisse
im Körper regulieren und Blockaden der Wirbelsäule lösen.
Auf der anderen Seite haben manuelle Therapien an der Wirbelsäule
und des Craniums positiven Einfluss auf die Regulierung von Reflexbögen
aufgrund der besseren Beweglichkeit und der optimalen Stoffwechselsituation
der Umgebung.
Beispiele weiterer Reflexe
ATNR und die Wirbelsäule
Der
Asymmetrisch Tonische Nackenreflex streckt bei Drehung des Kopfes
den Arm und das Bein auf der gleichen Seite und beugt den Arm und
das Bein auf der Hinterhauptseite. Er teilt den Körper auf
der vertikalen Mittellinie und sollte beim Kind spätestens
im 4. Monat gehemmt sein. Das Kind kann den Kopf in der Mitte halten
und die Arme unabhängig von der Kopfstellung strecken und beugen.
Jetzt kann das Kind auch gut die Mittellinie mit dem Kopf oder den
Augen überwinden, ohne dass sich die Tonusverhältnisse
im gesamten Körper ändern. Der Reflex wird unter der Geburt
benötigt, wenn die Schultern geboren werden, und er treibt
die gesamte Geburt voran. Er wird nicht benötigt bei einer
Sturzgeburt oder einer primären Sectio. Dies kann zu einem
Persistieren führen. Persistiert ein ATNR, haben die Kinder
unter anderem Probleme mit Rechts und Links, Festlegen der Händigkeit,
Augenfolgebewegungen und beim Schreiben, insbesondere beim Einhalten
der Linien und den Richtungen der Buchstaben. Sie haben häufig
Probleme mit der Hörverarbeitung und fallen aus dem Gleichgewicht,
sobald sich der Kopf dreht. Die Auge-Hand Koordination ist schwach.
Häufig ist der persistierende ATNR auf einer Seite dominanter.
Dies bedeutet, dass die Tonusverhältnisse rechts und links
unterschiedlich sind. Diese Kinder zeigen Asymmetrien in der Haltung.
Bei starkem ATNR blockieren die Wirbel. Wenn dies an den Kopfgelenken
geschieht würde, dies einem KISS 1 entsprechen, also einer
Verschiebung des Atlas auf eine Seite mit der zugehörigen Rotationsblockade
der Wirbel darunter. Wenn die Kinder in die Vertikale kommen, sieht
man die Asymmetrie häufig nicht mehr so deutlich. Dennoch:
Beim genauen Betrachten erkennt man seitliche Abweichungen der Wirbelsäule
mit Schulterhochstand, Beckenschiefstand oder Beckenverwringungen.
Auch funktionelle Beinlängenunterschiede können ihre Ursache
an den Kopfgelenken haben und somit auch mit einem persistierenden
ATNR zusammenhängen.
Werden die Kinder an der HWS behandelt und es tritt keine Besserung
ein, sollte unbedingt an den ATNR und die frühkindlichen Reflexe
gedacht werden. Wird der ATNR gehemmt und die Tonusverhältnisse
regulieren sich, bleiben der Atlas und der Axis in ihrer Bewegung
frei und die Haltungsasymmetrien werden verbessert.
Wenn primär die Funktionsstörung an den Kopfgelenken bestehen,
kann auf der anderen Seite kein Bewegungslernen stattfinden. Die
Kopfdrehung wird nicht beübt und der Bewegungsradius ist nicht
im vollen Umfang vorhanden. Dies behindert eine gute Reifung der
Kopfstellreflexe und verhindert eine Entwicklung der Auge-Hand Koordination.
Wenn die Blockaden an der Halswirbelsäule gelöst werden,
hat der Körper die Chance, die Reflexe zu integrieren und zu
transformieren.
Hat das Kind Schwierigkeiten, den Kopf frei nach rechts oder links
zu bewegen, sei es aufgrund eines KISS Syndroms oder eines persistierenden
ATNR, treten häufig Schwierigkeiten mit der Gehörverarbeitung
auf. Die Ohrdominanz ist unter Umständen nicht deutlich festgelegt.
Nach erfolgreicher Behandlung ist das Kind in der Lage, das Gehörte
besser zu verarbeiten, und seine Aufmerksamkeit und Fähigkeit
zur Konzentration verbessern sich drastisch.
STNR und die Wirbelsäule
Der
Symmetrisch Tonische Nackenreflex ist ein so genannter Brückenreflex.
Er erscheint erst im 6. bis 9. Lebensmonat und wird im 9. bis 11.
Monat vom Krabbeln abgelöst. Bei Flexion des Kopfes werden
unter dem STNR die Arme gebeugt und die Beine gestreckt und bei
Extension des Kopfes kehren sich die Tonusverhältnisse um.
Dies macht das Kind im Vierfüsslerstand vor dem Krabbeln. Auch
der Bärengang entwickelt sich daraus. Hier werden die ersten
Versuche gemacht, den ganzen Körper gegen die Schwerkraft anzuheben,
der Ober- und Unterkörper wird miteinander in Verbindung gebracht
und ausserdem trainiert das Kind durch das Anheben und Senken des
Kopfes, die Augen in die Ferne und Nähe zu akkomodieren.
Persistiert dieser Reflex, erscheint es uns, als hätten die
Kinder eine Barriere zwischen Ober- und Unterkörper. Sie lassen
häufig das Krabbeln aus und haben später Schwierigkeiten,
wenn die Arme etwas anderes ausführen sollen als die Beine,
wie z.B. beim Schwimmen und Fahrradfahren.
Die Augenmotorik ist beeinträchtigt weil sie weniger beübt
wurde und oft bleibt die kindliche Weitsichtigkeit erhalten.
Der STNR ist ein Nackenreflex und wird von den Nackenrezeptoren
ausgelöst. Wie beim ATNR ist es einleuchtend, dass der STNR
Einfluss auf die Stellung und die Funktion der Kopfgelenke hat.
In der Manualtherapie unterscheidet man zwei Fehlstellungen des
Atlas in der Vertikalen. Der Atlas kann inferior stehen, was einer
Flexion entspricht oder superior, was eine Extension des Atlas gegenüber
dem Schädel bedeutet. Dies kann man palpieren oder - um sicherzugehen
- röntgenologisch feststellen. Persistiert der STNR und ist
das Kind bei der Kopfbewegung nach oben und unten ständig gösseren
Tonusveränderungen ausgesetzt, kann es geschehen, dass der
Atlas in der einen oder anderen Position stehenbleibt. Das Kind
hat Schwierigkeiten, den Kopf nach oben und unten zu bewegen. Im
Sitzen findet es nicht die richtige Position und setzt sich deshalb
gerne auf die eigenen Füsse. In der Schule hat es Schwierigkeiten
beim Abschreiben von der Tafel.
Wird der STNR durch die NDT gehemmt, regulieren sich die Tonusverhältnisse
und die Funktionsstörungen in den Kopfgelenken werden gebessert.
Die Okulomotorik wird trainiert und die Akkomodation möglich.
Eine Manuelle Therapie der Kopfgelenke kann sich positiv auf den
STNR auswirken. Sind die Kopfgelenke frei, werden die sensorischen
Reize der Nackenrezeptoren besser verarbeitet und die Reflexbögen
mit dem Gleichgewichtsorgan und den Augen optimiert.
Der Spinale Galant Reflex und das Becken
Der
Spinale Galant Reflex wird rechts und links der Wirbelsäule
ausgelöst, indem man von dem unteren Schulterblattwinkel zum
Becken streicht. Er bewirkt eine Rotation und Lateralflexion des
gleichseitigen Beckens. Der Spinale Galant Reflex ermöglicht
ein frühes Bewegen der Becken- und Hüftregion und erleichtert
die Geburt. Er sollte spätestens im 9. Lebensmonat gehemmt
sein. Wenn er persistiert, sind die Kinder am Rücken und dem
Becken überempfindlich. Sie vertragen keine engen Kleider und
der Hosenbund und Gürtel stören sie. Beim Sitzen sind
sie unruhig und zappeln umher. Diese Kinder nässen häufig
noch spät ein und haben Probleme mit der Blasenkontrolle.
Ist der Spinale Galant Reflex einseitig vorhanden, bewirkt dies
einen einseitigen Muskelzug auf das Becken. Häufig sieht man
keinen einfachen Beckenhochstand sondern eine Verwringung der Beckenschaufeln
gegeneinander.
Bei therapieresistenten Beckenverwringungen sollte man an den Spinalen
Galant Reflex denken. Diese Kinder sollten lockere Kleider tragen
und im Unterricht aufstehen dürfen, um den Reflex nicht ständig
auszulösen und somit das ISG zu provozieren.
Eine Manuelle Therapie des Beckens und hier des ISG sollte den Spinalen
Galant Reflex positiv beeinflussen. Die austretenden sacralen Nerven
innervieren die Organe des Beckens mit Ausscheidungsorganen und
führen viele Nervenfasern des Parasympatischen Nervensystems
mit sich. Ist das ISG frei, wirkt sich dies günstig auf die
Stoffwechselsituation der Nerven und damit auf das Parasympatische
Nervensystem aus.
NDT und Manuelle Therapie
Kinder mit Lernschwierigkeiten begegnen einer breiten
Palette von Therapiemöglichkeiten. Die Neurophysiologische
Entwicklungsförderung NDT und die Manuelle Therapie bieten
eine grosse Chance, den Kindern optimale Voraussetzungen zu schaffen,
um geistige Fähigkeiten zu erlangen. Es gibt keinen Golden
Standard in der Therapie und vielleicht hat der eine oder andere
Therapeut mehr Erfahrung und ist treffsicherer in seiner Prognose,
aber hundertprozentig kann niemand voraussagen, wie ein Kind sich
weiter entwickelt. Das Nervensystem und der Körper des Kindes
sind noch so plastisch, dass wir uns gerne überraschen lassen
sollten.
Die Manualtherapie ist die Therapie mit weniger Aufwand und die
NDT setzt eher an den Wurzeln und viel früher an.
Wichtig bei der Therapie ist, immer an die anderen Möglichkeiten
zu denken, wenn die Erfolge sich nicht einstellen. Die NDT und die
Manuelle Therapie ergänzen sich hervorragend. Man sollte den
Therapiestart nur nicht gleichzeitig vornehmen. Es sollten einige
Wochen dazwischen liegen, um dem Körper die Möglichkeit
zu geben, sich an die neuen Situationen zu adaptieren.
Für die Zukunft wäre es hilfreich, wenn es für beide
Therapien gemeinsame Fragebögen gäbe. Es sollten Studien
gemacht werden, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede validieren
und aufzeigen, wann es sinnvoll ist, mit welcher Therapie zu beginnen.
Es müssten Erhebungen gemacht werden, wie viele Kinder tatsächlich
gleichzeitig beide Problematiken haben und welche im Vordergrund
steht.
Ausblick
Vielleicht behaupten manche Menschen, dass wir Luxusprobleme behandeln,
wenn es anderswo auf der Welt keine oder nur eingeschränkte
Möglichkeiten gibt, Kinder zur Schule zu schicken.
Die Kinder in unserer Gesellschaft sind aber unsere Zukunft. Und
nur, wenn wir unsere Kinder als kreative Menschen unterstützen
und sie Empathien empfinden für andere, sorgsam mit sich und
der Umwelt umgehen, dann haben wir auch eine Chance dass wir auf
der ganzen Welt bessere Bedingungen für alle haben. Wir haben
eine soziale Verantwortung unseren Kindern gegenüber.
Kinder sind das Wertvollste, das wir auf unserer Welt haben und
wir müssen sorgsam und verantwortungsvoll mit ihnen umgehen.
Quellen
1. Sally Goddard: Greifen und Begreifen. VAK
2. Sally Goddard: Warum ihr Kind Bewegung braucht, VAK
3. Dorothea Beigel: Flügel und Wurzeln, Verlag modernes lernen
4. W.Kahle, H. Leonhardt, W.Platzer: Taschenatlas der Anatomie Band
1 und 3, Thieme
5. Lippert: Anatomie, Urban und Schwarzenberg
6. Heiner Biedermann: Manuelle Therapie bei Kindern, Urban und Fischer
7. David S. Butler: Mobilisation des Nervensystems
8. Harry J.M. von Piekartz: Kraniofaziale Dysfunktionen und Schmerzen,
Thieme
9. Theo Mulder: Das adaptive Gehirn, Thieme
10. www.inpp.ch
11. www.manmed.info
12. www.crafta.de
13. www.pph34.de
Die Autorin: Judith Höferlin ist Physiotherapeutin
und betreibt mit ihrem Mann das Höferlin Institut in Basel.
Judith Höferlin, Höferlin Institut, Tessinstr.
15, 4054 Basel, Schweiz,
judith.hoeferlin@hoeferlin-institut.ch
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